Gekürzte Fassung eines Artikels
von Hanspeter Born
in der Weltwoche Nr. 3. 2003
Am 25. Mai 1942 traten Ingrid Bergman und Humphrey Bogart zur Arbeit in den Warner Brothers Ateliers im San Fernando Valley an. Weil einzelne der für «Casablanca» verpflichteten Darsteller noch mit anderen Filmen beschäftigt waren, wurde zuerst die Rückblende in den Kulissen eines Bistros auf dem Montmartre gedreht. Der Pianist Sam spielt «As Time Goes By». Aus einem Lautsprecher schnarrt eine Gestapo-Stimme. Ilsa: „Während die ganze Welt zusammenkracht, wählen wir diesen Zeitpunkt, um uns zu verlieben.” Rick: „Ja, ziemlich schlechtes Timing. Wo warst du, sagen wir vor zehn Jahren?” Ilsa: „Vor zehn Jahren? Lass mich überlegen. Ja, damals wurden mir die ersten Zahnspangen angebracht.” Das Liebespaar will vor den einmarschierenden Nazis nach Marseille fliehen. Rick schlägt vor, dort zu heiraten. Ilsa reagiert verstört: „Ich hasse diesen Krieg so sehr. Wenn etwas geschehen sollte, das uns trennt, wohin es dich auch verschlägt und wo immer ich auch sein werde, ich will, dass du weißt, dass ich dich... Küss mich! Küss mich, als ob es das letzte Mal sei!”
Bei Warner Brothers verkehrte man schriftlich miteinander. Auf Memozetteln stand: „Verbale Botschaften verursachen Missverständnisse und Verzögerungen.” Zudem schien die Chemie zwischen den beiden Stars nicht zu stimmen. Der abgebrühte Profi Bogart ging gegenüber der strahlenden jungen Schwedin auf Distanz. Von Funken oder Knistern konnte keine Rede sein. Als man die Bergman Jahre später zu ihren Erinnerungen an Bogart befragte, meinte sie: „Ich küsste ihn, aber ich habe ihn nicht gekannt.”
Bogie war nicht gut drauf. Er litt unter Eifersuchtsszenen seiner Frau Mayo, die ständig anrief und sogar angetrunken im Studio aufkreuzte. In Pausen spielte er Schach oder verzog sich mürrisch in seine Garderobe, wo ihm die Whiskyflasche Gesellschaft leistete. Nach einer langen Lehrzeit, in der er am Broadway den Dandy und in Hollywood den Bösewicht spielte, hatte Bogart als Detektiv Sam Spade in «The Maltese Falcon» den Durchbruch geschafft. Da war er bereits vierzig. Erstmals sollte er jetzt die Rolle des romantischen Liebhabers übernehmen. Der Gedanke bedrückte ihn. Einem Journalisten sagte er: „Wenn ich vor der Kamera in der Klemme war, habe ich mich bislang immer mit einem kleinen schwarzen Revolver aus der Affäre gezogen. Diesem Liebeszeug bin ich nicht gewachsen. Ich weiß überhaupt nicht, was tun.” Ein Freund gab ihm den Rat, er solle während der Liebesszenen einfach stillstehen und die Bergman auf sich zukommen lassen.
Ingrid Bergman, die wohl wusste, wie unwiderstehlich sie wirkte, plagten keine Selbstzweifel. Sie war heilfroh, dass sie der Enge des Provinznestes Rochester, wo ihr Mann als Arzt praktizierte, hatte entfliehen können. Das Dasein als Ehefrau und Mutter einer kleinen Tochter langweilte sie. Sie hatte sich heftig für die Rolle der Maria in der Hemingway-Verfilmung «For Whom the Bell Tolls» beworben. Als Paramount ihr einen Korb gab, kam ihr das Angebot von Warner Brothers gerade gelegen. Die Rolle der Ilsa machte ihr allerdings Mühe. Warum wurde das Drehbuch immerzu abgeändert? Würde sie am Schluss in den Armen ihres Geliebten Rick landen oder an der Seite ihres Gatten Victor? Sie wollte von Curtiz wissen, welchen Mann sie denn liebe. Der Regisseur riet ihr, etwas «dazwischen» zu spielen. Bergman protestierte: „Es besteht ein kleiner Unterschied im Verhalten gegenüber einem Mann, den man liebt, und einem anderen, für den man bloß Mitleid oder Zuneigung empfindet.”
Der Produzent Hal B. Wallis hatte Weihnachten 1941, kurz nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor, die Rechte für das nie aufgeführte Bühnenstück «Everybody Comes to Rick’s» gekauft. Seine Assistentin Irene Lee hatte es ihm empfohlen, und der Lektor Stephen Karnot hatte es für gut befunden. Das Stück war das Werk des New Yorker Berufsschullehrers Murray Burnett, der in Wien die Verfolgung jüdischen Glaubensgenossen miterlebt und in einem Nachtklub in Südfrankreich das angstvolle Warten von Flüchtlingen und das undurchsichtige Treiben von Halbweltgestalten beobachtet hatte. Die mit Burnett befreundete Joan Alison half ihm beim Schreiben des Melodramas.
Kaum war «Everybody Comes to Ricks» sein Eigentum, änderte Hal Wallis den Titel in «Casablanca». Bevor er sich um die Besetzung kümmern konnte, brauchte er einen Regisseur. Seine erste Wahl, William Wyler, war im Militär, und so griff Wallis auf seinen Freund Michael Curtiz zurück. Curtiz bot Gewähr für Tempo und Spannung. Er war ein Arbeitstier, zuverlässig und diszipliniert.
In Hollywood bestimmten geschriebene und ungeschriebene Gesetze, welche Charaktere und Handlungen dem Publikum zugemutet werden konnten. Der «Production Code», ein von Filmleuten und Kirchenmännern erarbeiteter Sittenkodex, wachte darüber, dass sich keine anstößigen Szenen oder Worte in die Filme verirrten. In Burnetts Stück ist Rick ein verheirateter Anwalt mit zwei Kindern, und seine Geliebte Loïs eine Schlampe, die sich heimlich von einem anderen Mann aushalten lässt. Das ging natürlich nicht. Außerehelicher Sex war tabu. Helden mussten wahre Helden sein und Heldinnen rein.
Hal Wallis wählte als Drehbuchschreiber die für ihren Witz bekannten Brüder Phil und Julius Epstein. Sie gaben vor allem den Dialogen mehr Pfiff. Als sie Mitte Februar ihre Arbeit begannen, wussten sie bereits, wer Rick spielen würde. Sie schneiderten den Part auf Bogart zu, den moralisch integren Zyniker mit scharfem Mundwerk. Rick befreiten sie von seiner Frau, seinem Beruf und seinem Selbstmitleid. Auch dem Polizeichef wurde ein neuer Charakter verpasst. Den gewissenlosen Weiberhelden und Bösewicht verwandelten die Epsteins in den opportunistischen, gescheiten Lebemann Louis Renault. Interpretiert vom unvergleichlichen Claude Rains, trägt die Figur des charmanten, korrupten Polizeipräfekten viel zu der zweideutigen Atmosphäre im Film bei. In den ironischen Wortgeplänkeln zwischen Louis und Rick konnten die Epsteins ihr Talent beweisen.
Als die Epsteins wegen anderweitiger Verpflichtungen von Howard Koch abgelöst wurden, hatten sie erst knapp die Hälfte des Drehbuchs abgeliefert. Koch gab der Story einen stärkeren politischen Drall. Er stattete Rick mit einer politischen Vergangenheit aus und pflanzte unter seine raue Schale ein weiches Herz.
Als die Dreharbeiten schon weit fortgeschritten waren, ließ die Liebesgeschichte immer noch zu wünschen übrig. Casey Robinson, der höchstbezahlte Schreiber im Stall von Warriet Brothers, musste helfen. Er machte aus der leichtlebigen Amerikanerin Lois die unverdorbene Europäerin Ilsa. Robinsons subtile Retuschen verdichteten die Handlung. Ein Beispiel für seine sorgfältige Arbeit ist die Szene, in der sich die vom Schicksal getrennten Liebenden wieder begegnen. Als Rick mit Sam aus Paris floh, hätte Ilsa mitkommen sollen. Sie erschien jedoch nicht am Bahnhof und teilte Rick in einem Brief mit, dass sie ihn nie wieder sehen könne. Rick glaubte, sie habe ihn fallen gelassen. Doch Ilsa hatte an diesem Tag erfahren, dass ihr tot geglaubter Gatte Victor Laszlo aus dem Konzentrationslager entwichen war und sie brauchte. Anderthalb Jahre später kommt Ilsa mit Victor nach Casablanca. Als die beiden das Café betreten, sieht sie Sam am Klavier. In einem Memo kommentiert Robinson: „Das Mädchen hat nur eines im Sinn: Sie muss zu Rick gehen und ihm erklären, warum sie nicht auf den Zug kam. Weil sie ihn liebt und weil sie vermuten muss, was er über sie denkt, muss sie dies aufklären. Es ist nicht nötig, dass sie ihren Beweggrund Sam mitteilt. Es ist besser, wenn sie es nicht tut. Aber das Publikum wird später verstehen, worum es ging. In der Zwischenzeit dient diese Szene als sehr gute Vorbereitung für die Liebesgeschichte und regt die Neugier der Zuschauer an. Damit wird das Wiedersehen zwischen Ilsa und Rick ungeheuer wirkungsvoll.”
Robinson erhöht die dramatische Wirkung, indem er die fast abergläubische Angst Sams vor einer Begegnung Ricks mit Ilsa zeigt. „Das Publikum”, notiert Robinson, „wird daraus schließen können, welch schrecklichen Schaden die Frau Rick zugefügt hat, aber auch, dass sie für ihn von enormer Bedeutung ist.”
Wallis hatte als unabhängiger Produzent beim Engagement der Darsteller weit gehende Freiheit. Die Weltlage hatte bewirkt, dass erstklassige europäische Schauspieler, viele unter ihnen Juden, nach Hollywood gekommen waren. Aus diesem Reservoir schöpfte er. Der Ungar Peter Lorre, der unvergessliche psychopathische Mörder in Fritz Langs «M», hat in «Casablanca» als schmieriger Ganove nur zwei kurze Szenen, kann aber Bogart mühelos das Wasser reichen. Ebenso eindrücklich sind Sydney Greenstreet als schwergewichtiger Dunkelmann Ferrari und Claude Rains als Louis Renault, der ungarische Komiker S. Z. Sakall als warmherziger Oberkellner, der Berliner Conrad Veidt als Nazioffizier Strasser, der Franzose Marcel Dalio als Croupier, Curt Bois als abgefeimter Taschendieb und Ilka Gruning und Ludwig Stossel als altes deutsches Ehepaar, das sein Englisch übt? „Liebchen, sweetheart, what watch?” - „Ten watch.”
Weniger überzeugend ist der Widerstandskämpfer Victor Laszlo. Der Österreicher Paul Henreid, der sich durch eine hohe Gage ködern ließ, hat seinen Entscheid später bereut. Der Schauspieler, der in Deutschland und England seine Sporen abverdient hatte, machte in «Now, Voyager» als Liebhaber großen Eindruck. Es schien eine Frage der Zeit, bis er zum Star avancieren würde. Nach seiner Rolle als edler, aber blasser Laszlo, der im Schatten des magnetischen Bogie stand, rutschte Henreid in den Rang der zweiten Besetzung.
Es ist die dramatische Verknüpfung einer Liebesgeschichte mit dem großen Welttheater, die «Casablanca» unvergesslich macht. Die Gebrüder Warner waren Söhne jüdischer Einwanderer aus Polen. Sie hatten sich emporgearbeitet und ihr Studio auf sozialkritische Stoffe spezialisiert. Die Figuren in ihren Filmen kamen oft von der «falschen Seite der Eisenbahnschienen». Das Leben schenkte ihnen nichts.
Studioboss Jack Warner hatte früh die von den Nazis ausgehende Gefahr erkannt und Anti-Nazi-Filme produziert. Vor Pearl Harbor, als die öffentliche Meinung in den USA keine Verwicklung in die europäischen Händel wünschte, kam Warner im Kongress unter Beschuss. Selbst nachdem die Weltlage sich geändert hatte, musste Hollywood bei politischen Anspielungen auf der Hut sein. In «Casablanca» wird nie erwähnt, dass es sich bei den vor den Nazis geflüchteten Leuten um Juden handelt. Die Wörter «Jude» oder «jüdisch» kommen nicht vor. Warner wollte vor allem jenen Kreisen keinen Auftrieb geben, die behaupteten, Roosevelt sei von den Juden in den Krieg gegen Hitler gezerrt worden.
Erst nach dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 ermutigte die Administration Roosevelt zu Anti-Nazi-Propaganda im Kino. Die Juden Jack Warner, sein Produzent Wallis, die Drehbuchautoren Epstein und Koch, der Regisseur Curtiz ließen sich nicht zweimal bitten.
„Ich halte meinen Kopf für niemanden hin”, sagt Rick noch am Anfang des Films, als der flüchtige Schwarzhändler ihn um Hilfe bittet. Später erklärt er Laszlo: „Politik ist nicht mein Ressort.” Unter dem Eindruck von Ilsas und Victors Opferbereitschaft gibt er aber schließlich seine Neutralität auf. Die Frage, ob er auf Ilsa zugunsten einer großen Sache verzichten soll, beantwortet sich von selbst. Das Gewissen schreibt ihm vor, was er tun muss.
Im Finale, das in intensiven Diskussionen zwischen Curtiz, Wallis und Bogart entwickelt wurde, ist es Rick, der die Ausreise Ilsas und Victors inszeniert. Auf dem Flugplatz erklärt er Ilsa: „Gestern Nacht sagten wir viele Dinge. Du sagtest, ich müsse für uns beide denken. Nun, ich habe seither viel nachgedacht, und es kommt alles aufs Selbe heraus. Du nimmst dieses Flugzeug mit Victor, du gehörst zu ihm.” Ilsa, die geglaubt hatte, sie werde bei Rick bleiben, fragt: „Und wir?” - „Wir werden immer Paris haben.” Als sie zögert, sagt Rick: „Ich bin nicht edel, aber es braucht nicht viel, um zu verstehen, dass die Probleme dreier kleiner Menschen auf dieser verrückten Welt weniger bedeuten als a hill of beans.” Der Hügel aus Bohnen lässt sich so wenig übersetzen, wie der (wahrscheinlich von Bogart improvisierte) Satz, den Rick während des Films viermal ausspricht und mit dem er sich von seiner großen Liebe verabschiedet: «Here’s looking at you, kid.»
Victor besteigt mit Ilsa das Flugzeug. Beim Versuch, die Maschine aufzuhalten, wird Major Strasser von Rick erschossen. Rick soll aus Casablanca verschwinden, und Louis will für ihn die Reise zu den freien französischen Streitkräften in Brazzaville organisieren. Rick nimmt den Vorschlag an und fügt hinzu: „Louis, du schuldest mir immer noch die zehntausend Francs.” Mit dem Satz enden Theaterstück und Drehbuch. Doch der Schluss missfiel Curtiz. Eine handschriftliche Ergänzung im Drehbuch zeigt, dass er Louis die folgenden letzten Worte gibt: „Und dies sollte ungefähr unsere Auslagen begleichen.” Als Wallis einen Monat später die Rohfassung sah, war er mit dem Ende noch unzufrieden. Bogart wurde ins Tonstudio zitiert, wo er in halb spöttischem Tonfall den neuen, von Wallis kreierten Schlusssatz sprach: „Unsere Auslagen? Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.”
Zuletzt kam die Filmmusik. Max Steiner hatte bei Mahler in Wien studiert und galt als bester Komponist in Hollywood. Er sah sich die Rohfassung des Films an und fand «As Time Goes By» abgedroschen. Das Lied, das zehn Jahre zuvor in einer unbeachteten Broadway-Show klanglos untergegangen war, hatte es Murray Burnett, dem Autor von «Everybody Comes to Rick’s», in seiner Studentenzeit angetan. Steiner wollte es durch eine eigene Komposition ersetzen, was allerdings die Neuverfilmung der Szene erfordert hätte, in der Ingrid Bergman Sam die ersten paar Noten vorsummt. Die Bergman aber hatte sich für ihren nächsten Film bereits die Haare abschneiden lassen. Wohl oder übel musste Steiner seine Musik um «As Time Goes By» herum komponieren. Er tat es mit Brillanz, und der vergessene alte Song wurde zum großen Hit des Jahres 1943.
Niemand hat den Film besser kommentiert als Billy Wilder: „Dies ist der wunderbarste Quatsch, der je auf die Leinwand gebannt wurde. Der Set war kümmerlich. Mein Gott, ich habe den Schauspieler Greenstreet auf dem gleichen Korbstuhl vorher und nachher in fünfzig Filmen gesehen, und ich kannte die Papageien, die im Film vorkommen. Aber es funktionierte. Es funktionierte absolut göttlich. Wie blasiert du auch bist, wenn «Casablanca» im Fernsehen kommt und du hast es schon 500 Mal gesehen, du schaltest dennoch wieder an.”
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