Aus der Sonntagsausgabe
der Neuen Zürcher Zeitung
vom 18. Oktober 1942
Zu einem Tessinerfilm
Die Ansicht eines Tessiners
Mir ist es ein Bedürfnis, mich als Tessiner zu dem neuen Film «Al canto del cucù» zu äußern, nicht nur, weil er ein verstelltes Bild der Wirklichkeit darstellt, sondern weil er einer Erscheinung entspricht, welche m. E. auf einem großen Mißverständnis unserer Miteidgenossen anderer Zunge dem Tessin gegenüber zu sprechen.
Der Südländer, und damit ist auch der Tessiner zu verstehen, wird diesseits des Gotthards als «temperamentvoll» bezeichnet: damit ist Gutes und Schlechtes gemeint. Aber, siehe da: wird auf der Bühne oder auf der Leinwand der Tessiner dargestellt, so geschieht es immer auf eine Art, die das Publikum zum Lachen bewegt; nur die negative Seite diese Temperaments wird uns gezeigt. Entweder sind es Leute, die lustige Lieder singen, begleitet von Gitarren und Mandolinen, die im Tessin nicht so häufig zu hören sind, wie man es glaubhaft machen möchte; oder ausgelassene, zechende Brüder, oder Menschen, die sich zu tragikomischen Zornausbrüchen hinreißen lasen. Dies alles können wir auch wieder im erwähnten Film beobachten. Was sich Ettore Cella, der übrigens kein Tessiner ist, in diesem Filme leistet, ist die Karikatur eines Tessiners, und wir würden stillschweigend darüber hinweggehen, wenn es sich um einen einzelnen Fall handelte. Um bei diesem Schauspieler zu bleiben: schon im «Postillon vom Gotthard» sahen wir diesen radebrechenden Tessiner in der blöden Rolle des «Spaghettifressers» und des alles dramatisierenden Südländers; eine ähnliche Rolle spielte er in «Une femme disparaît», als jähzorniger Ehemann, in einer mehr neapolitanisch als tessinisch anmutenden Szene. Und jetzt? Bei jeder Kleinigkeit gerät dieser Carlo Corda in Zorn: er flucht wie ein Türke, in Zürcher und Tessiner Dialekt, und zwar mit Worten, die wohl der Wirklichkeit nahestehen können, die man aber auf keiner italienischen Bühne zulassen würde. Oder soll nicht die Bühne auch in der Realistik Maß halten? Dieser Corda zerschlägt in der Wut alles, was ihm in die Hände fällt, er spricht weder richtig italienisch noch richtig deutsch; er verliert sich in «faulen Witzen», die von der Tessiner Art so verschieden sind, wie die Gebärden eines Pinguins von denen eines Kanarienvogels.
Wer ist daran schuld? Der Drehbuchautor, der Regisseur, der Schauspieler selber? Alle sind m. E. dafür verantwortlich. Es ist schade für die guten Eigenschaften dieses Filmschauspielers: aber solange die Regisseure für ihn nur die Rolle eines solchen Tessiners übrig haben, wird er schwerlich Karriere machen. Aber sehen wir uns einmal die Figur der Hirtin Celestina an, welche die bescheidene, arbeitsame, ehrliche Tessiner Bergfrau zu verkörpern hätte. Sie wird als Haushälterin von den Burschen angestellt, die mit dem Marronihändler von Zürich nach dem Süden ausgezogen sind, um ein verfallenes Tessiner Dorf wiederaufleben zu lassen. Welche Enttäuschung: wir sehen die Arme mit schmutzigem Gesicht den Tisch decken, wie sie die Milchtassen so faßt, daß alle Finger darin stecken. Einer der «guterzogenen» Burschen unterläßt es nicht, ihr eine Lektion über Hygiene und Sauberkeit zu erteilen. So schmutzig sollten, im Kopf gewisser Leute, alle Tessiner Frauen sein! Aber derselbe «guterzogene» Jüngling, der sich für Hygiene und Sauberkeit einsetzt, zerreißt (wohl aus «moralischen» Gründen!) den unteren Saum der altehrwürdigen, echten Tracht des Maggiatales, die von Celestina getragen wird, damit man die Beine bewundern kann! Der Regisseur, oder der Autor (diesmal leider ein Tessiner) hat in seinem geschmacklosen Spiel vor der ehrbaren, bodenständigen Kleidung unserer Bergfrauen nicht Halt gemacht. Auch das Kopftuch wird Celestina weggerissen, und die Frisur erscheint darunter schon kurzgeschnitten, gewellt und ausgeputzt wie diejenige einer mondänen Frau. Oh, diese Regisseure! (Und Filmcoiffeure! Die Red.)
Der Film «Al canto del cucù» hat Proteste hervorgerufen, die nicht unbeantwortet bleiben sollten, wollen wir nicht ein bedauerliches Mißverständnis weitere Blüten treiben lassen, die nicht angetan sind, das Verständnis für das Tessin und seine Leute zu fördern. Aber die Antwort soll nicht bloß von den Zeitungen kommen: es gibt Argumente, die nicht leicht und nicht mit Gewinn in öffentlichen Blättern zu behandeln sind. Die Antwort soll von den maßgebenden Kreisen, und zwar durch die Tat, durch bessere Leistungen gegeben werden. Wir zweifeln nicht, daß sie in der Lage sind, mit etwas gutem Willen, Erscheinungen wie die oben erwähnten ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Die Tessiner werden ihnen dankbar sein, und mit ihnen viele gute Eidgenossen anderer Zunge, wenn uns viele Anzeichen (wir meinen damit die Kritiken, welche in den deutschschweizerischen Blättern über «Al canto del cucù» erschienen) nicht trügen.
Camillo Valsangiacomo
Camillo Valsangiacomo
(Journalist und Schriftsteller, 1898–1978)
hat die offizielle italienische Textfassung des
«Schweizerpsalms» geschrieben.
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